Andreas Fischer moraki kulturprodukte

Von der Kraft des verwebten Erzählens
Interview mit Andreas Fischer

zu Contergan: Die Eltern

Andreas Fischer ist Filmemacher und künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. Auf dem DOKUMENTARFILMFEST MÜNCHEN hat sein Dokumentarfilm Contergan: Die Eltern Premiere. Günter Jekubzik interviewte den Filmemacher.

Wie bist du auf die Idee gekommen, einen Film über die Eltern der Contergangeschädigten zu drehen?

Das liegt schon 10 Jahre zurück. Es gab immer wieder Dokumentationen über die so genannten „Contergankinder“. Die habe ich mit großem Interesse verfolgt, nicht zuletzt deshalb, weil das meine eigene Generation ist. Dann fragte ich mich irgendwann, was war mit den Eltern? Wie haben die das erlebt? Was für eine Fallhöhe. Da sind junge Paare, sie sind verliebt, freuen sich auf ihr Kind und dann kommt das Baby zum Beispiel ohne Arme zur Welt. Und Schuld ist eine Schlaftablette.Ich hatte dann auch sofort die Idee, den Film als Interviewfilm zu machen.

Wie kam es dann zur Realisation?

Vor 4 Jahren kam ich in Kontakt mit dem Bundesverband Contergangeschädigter e.V. Ich traf mich mit der Vorsitzenden Margit Hudelmaier und fragte, ob sie mir helfen würde, Interviewpartner zu finden. Die Idee fand sie gut, aber praktisch undurchführbar. Sie sagte sinngemäß: es ist nicht machbar, wir werden NIE eine Mutter finden, die darüber sprechen wird, aber wir können es versuchen. Das fand ich ziemlich großartig.

Wie viele Interviewpartner gab es und wie habt ihr sie gefunden?

Margit Hudelmaier hat vorrecherchiert, und mir schließlich 20 Personen genannt. Ich habe dann mit allen telefoniert, einige mochten dann doch nicht mehr, andere wurden krank. Schließlich habe ich 12 Mütter und Väter interviewt, 10 Interviews wurden im Film verwendet. Im Schnitt zeigte sich, daß mehr Personen den Film überlastet hätten.

Wie gelang es dir, eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen, dass sie so vertrauensvoll, herzlich so offen ihre Liebes- und Lebensgeschichte erzählen?Als ich die Interviews machte, war inzwischen klar, dass ich den Film im Auftrag des Bundesverbandes Contergangeschädigter produziere. Das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend hatte das Projekt gefördert. Also kam ich im Auftrag des Verbandes, avisiert von der Vorsitzenden. Das war schon einmal eine ganz andere Basis als wenn ich als völlig Fremder aufgetaucht wäre. Außerdem waren die Mütter und Väter, die sich mit einem Interview bereit erklärt hatten, sehr daran interessiert, ihre Geschichte zu erzählen, auch stellvertretend für alle anderen Eltern. Ich muss allerdings sagen, dass mich das Ausmaß der Offenheit und des Vertrauens welches mir entgegengebracht wurde, selbst überrascht und extrem bewegt hat. Letztendlich ist so etwas eine Frage der zwischenmenschlichen Chemie oder mit anderen Worten: ein Geheimnis.

Wieso der Ansatz nur mit den Eltern zu sprechen? Welche Gründe gibt es, auch Bilder und Filme der Kinder nur sehr vorsichtig und zurückhaltend zu

verwenden?

Es gibt ja einen Zusammenhang zwischen Reduktion und Intensität. Ich wollte eine möglichst starke Reduktion. Daher konzentrierte ich mich auf Interviews mit Eltern, baute verhältnismäßig wenig Archivmaterial ein und ließ den Erzählungen der Menschen einen möglichst großen Raum. Die „Kinder“ fanden es gerade gut, dass der Fokus auf die Eltern gelegt wurde. Auf die Idee war tatsächlich noch niemand gekommen.

Wie viel Zeit hast Du Dir für die Interviews genommen und wie viel Material stand am Ende zur Verfügung?

Wir haben mit jedem Interviewpartner einen Tag verbracht, und zwar bei ihnen daheim. Letztendlich hatten wir 50 Stunden Interviewmaterial und etwa die gleiche Menge Archivmaterial, hauptsächlich privates Super-8-Material von den Familien aber auch zeitgenössische Senderberichte.

Die Eltern erzählen vom Kennen lernen, von Verlobung und Heirat, der Schwangerschaft, mit erstaunlicher Genauigkeit von der Verschreibung und Einnahme des Contergan, von ersten beunruhigenden Gedanken, den Geburten und dem Aufwachsen der Kinder. War dir vorher klar, auf welche Themen du dich konzentrieren wirst?

Ich sah die Geschichten der Eltern quasi als Drama. Ich habe überlegt, welche Situationen muss es gegeben haben, die Wendepunkte waren, die psychisch ganz besonders schwierig waren, oder auch, wo es Wendepunkte zum Guten gab. Ich habe dann schon gezielt nach solchen Ereignissen gefragt. Zum Beispiel war mir klar, es muss für die Mütter eine extrem schwierige Situation gewesen sein, als sie erfuhren, dass die Contergantablette schuld an den Behinderungen der Kinder war – denn sie hatten die ja geschluckt. Man kann den Müttern keinen Vorwurf machen, denn Contergan wurde ausdrücklich als absolut unschädlich beworben und wurde auch sehr häufig von Ärzten verschrieben. Trotzdem ging ich davon aus, dass die Mütter oft Schuldgefühle haben müssten. Das war dann auch so. Aber die meisten Themen ergaben sich in den Gesprächen. Das wurde dann auch von Interview zu Interview leichter, weil ich immer mehr in die Anatomie der Geschichte Einblick bekam und bald wusste, wonach ich Fragen musste.

Welches Kamerakonzept gab es?

Bei den ersten sechs Interviews war Roland Breitschuh der Kameramann, dann Dieter Stürmer. Wir drehten immer in den Wohnungen der Interviewpartner, in der Nähe eines Fensters. Ich wollte so weit wie möglich natürlich einfallendes Licht. Das birgt allerdings Risiken. Lichtwechsel, die beim Schnitt zu Problemen führen können. Aber wir haben Glück gehabt, nur ganz selten haben wir Lampen benutzt, und es wurde leicht mit indirektem Licht aufgehellt. Man darf im Übrigen die Arbeit des Kameramanns bei einem Interviewfilm nicht unterschätzen. Es ist ja nicht damit getan, die Mühle aufzustellen und draufzuhalten. Es ist äußerste Sensibilität gefragt, beispielsweise, um in den entscheidenden Momenten dem Interviewpartner in einer kleinen Bewegung zu folgen, die Kamera nie aufdringlich werden zu lassen, gerade bei solch einem heiklen Thema. Wir haben stundenlang ohne Unterbrechung gedreht, das erfordert pausenlose, absolute Aufmerksamkeit.

Wie war der Schnitt?

Furchtbar und unglaublich beglückend. Die Cutterinnen Martina Pille und Fabienne Westhoff haben mit mir 7 Monate geschnitten. Ich glaube, dieser Ansatz, ein Geschehen nur aus Interviews rekonstruierend zu montieren ist mit das Schwierigste, was es im Schnitt gibt. Für mich war aber die psychische Belastung das größte Problem. Monatelang haben mich diese Geschichten und die Bilder bis in die Träume verfolgt oder mir buchstäblich den Schlaf geraubt. Als der Film dann aber Form gewann und wir spürten, dass das Konzept hervorragend funktioniert, war das ein extremes Glückgefühl.

Noch einmal zurück zur Form des Interviewfilms. Stand Eberhard Fechner bei Deinem Film ein wenig Pate?

Auf das Stichwort habe ich ja gewartet. Die Frage liegt natürlich nahe. Ich liebe die Filme von Fechner sehr, er ist wirklich eine Lichtgestalt in der deutschen Fernsehgeschichte. Seine Filme haben mir die Form des Interviewfilms nahe gebracht. Aber es lag mir nicht daran, seinen einzigartigen Stil zu kopieren. Mein Film unterscheidet sich in einem Punkt sehr stark von denen Fechners. Er hat die Erzählungen seiner Interviewpartner zum Teil stark zertrümmert und dann montiert. Da gibt es stellenweise nur Satzteile oder gar nur Worte, die äußerst kunstvoll montiert wurden. So weit bin ich nicht gegangen.

Wie gelingt es, einen Interviewfilm so packend zu machen?

Es gibt einen magischen Moment am Schneidetisch oder Avid. Beispiel: Eine Person beginnt, von etwas zu erzählen, dann schneidet man auf eine andere Person, die die gleiche Geschichte weitererzählt und dann auf eine dritte, die das Geschehen kommentiert. So sitzen die Interviewpartner sozusagen virtuell an einem Tisch und unterhalten sich. Auf diese Weise entsteht etwas völlig Neues, mehr als die Summe der Erzählungen, eine Art Metaerzählung. Das ist sehr faszinierend. Ich denke, es sind unsere großartigen Interviewpartner in Verbindung mit dem Verweben der Erzählungen und der zurückhaltenden Kamera, was den Film so stark macht.

Hast du Vorbehalte erfahren, einen Interviewfilm in Zeiten von History-Features zu machen?

Und wie! Sender lehnten ab. Filmförderungen lehnten ab. Ich bin wirklich sehr froh, dass der Bundesverband Contergangeschädigter e.V. und die Leute vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vertrauen in das Konzept hatten und das Projekt förderten. Ich fürchte, vor allem in den Köpfen von vielen Redakteuren gibt es da eine Schublade: Interviewfilm = „Talking Heads“ = langweilig. Das hat keinen „optical value“. Das ist ja im Moment so ein Schlagwort. Ich finde es ziemlich traurig, dass die Form des History-Features à la Knopp inzwischen fast ein Monopol hat. Wenn das gut gemacht ist, habe ich nichts dagegen, aber ich finde, es sollten auch andere Formen möglich sein. Wenn ich einen Menschen im Bild habe, der mir etwas Spannendes erzählt, und auch packend erzählen kann, dann kann ich dem auch lange zuhören und brauche nicht nach jedem dritten Satz einen Schnitt und sofort Archivbilder. Mein Eindruck ist, manchmal wird da ein bißchen viel Kirmes betrieben aus Angst, der Zuschauer könnte wegzappen. Das ist schade, denn es entfaltet sich eine große Kraft, wenn man dem Erzählen vertraut. Das hat ja auch etwas sehr Archaisches, man sitzt da und sieht und hört jemandem zu, der eine Geschichte erzählt. Ein Interviewfilm – um einem anderen gängigen Einwand zuvorzukommen – ist für mich auch nicht ein bebildertes Hörspiel. Unendlich viel erzählen mir auch Blicke, kleine Gesten, eine winzige Bewegung in Augenblicken des Schweigens.

Warum kommt der Contergan-Prozess im Film nicht vor?

Aus zwei Gründen. Thema meines Films ist das seelische Erleben der Eltern. Darauf habe ich mich konzentriert. Ich wollte kein Allround-Feature zum Thema Contergan-Skandal machen. Es gibt schon andere gute Filme zu dem Thema, etwa „Wegen Geringfügigkeit eingestellt“ von Gero Gemballa, ein sehr guter Film über den Prozess. Der zweite Grund: Der Prozess ging ja mit einem Vergleich zu Ende. Das Verfahren wurde eingestellt und die Herstellerfirma Grünenthal zahlte 100 Millionen DM in eine Stiftung ein. Zusammen mit einer Einzahlung des Bundes bildete dieses Geld den Grundstock für die Auszahlung von Renten an die Geschädigten. Dieser Vergleich ist bis heute unter den Eltern teilweise umstritten. Es gibt Kritiker die sagen, man hätte den Prozess um jeden Preis bis zur Verurteilung der Angeklagten führen müssen, oder, die Zahlung der Firma war zu niedrig. Wäre ich in meinem Film auf dieses Thema eingegangen, hätte ich eine große Strecke des Films darauf verwenden müssen, die verschiedenen Aspekte dieser Geschichte darzustellen. Das wollte ich nicht. Ich wollte mich auf die Eltern konzentrieren. Der Bundesverband war damit auch mehr als einverstanden.

Seit 1999 bis Du künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. Wie ließ sich denn die Arbeit dort mit der Arbeit an einem so großen Filmprojekt vereinbaren?

Das war stellenweise durchaus schwierig, vor allem in der Zeit des Schnitts. Ich bin oft zwischen den Seminarräumen der KHM und meinem Schneideraum hin- und hergependelt. Aber die KHM und meine Kollegen dort haben mich sehr unterstützt, sonst wäre das schlicht unmöglich gewesen. Aber es hatte auch Vorteile. So konnte ich mit der Kassette unseres Rohschnitts ein paar Meter weiter in das Büro von Hansjürgen Rosenbauer, Horst Königstein und Dietrich Leder spazieren, die Professoren an der KHM sind, und sie bitten, einen Blick auf die Dramaturgie zu werfen. Da habe ich tolle Beratung bekommen, für die ich sehr dankbar bin. 

Wie soll es jetzt nach der Premiere beim DOKUMENTARFILMFEST MÜNCHEN mit dem Film weitergehen?Zunächst hat oberste Priorität, dass die Familien der Contergangeschädigten den Film zu sehen bekommen. Kürzlich auf einer Versammlung kam ein Contergangeschädigter auf mich zu und meinte: „Wann wird dein Film denn endlich fertig? Ich möchte endlich wissen, was meine Eltern erlebt haben.“ Ich glaube, es ist nicht schwer zu verstehen, dass in den Familien oft nicht über diese Dinge gesprochen wurde. Der Film wird viel bewegen. Darüber hinaus freue ich mich sehr, dass es ein großes allgemeines Interesse an meinem Film gibt. Erste Kinos haben gebucht und jetzt muss der Film in die Welt.

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Foto: Klaus Schmitz